Wie ein morgendlicher Blick in den Spiegel
völlig neue Reflektionen auslösen kann
von Alexandra Wunderland
Neulich
schaute ich in den Spiegel. Sie werden das kennen.
Es war kurz nach dem Aufstehen, ich stand etwas belämmert
in meinen Pantoffeln und wartete auf Einsichten. Doch
die einzige Einsicht, die kam, lautete: mein Hirn
hat nichts anzuziehen! Nichts als alte Klamotten
im Oberstübchen. Hmm
Dabei
vergeht kein Tag, an dem uns nicht irgendwelche Besserwisser
mit der Forderung nach Selbstveränderung belästigen.
Jeder Hinz und Kunz schlägt uns ja inzwischen den
einen oder anderen Paradigmenwechsel vor, beziehungsweise
um die Ohren. Schauen solche Prediger nie in den
Spiegel? Oder verraten sie uns nur nicht, welch trostlose
Visagen sie erblicken? Reicht es denn nicht, wenn
wir im Leben durch dick und dünn gehen? Mössen
wir jetzt auch noch mit unsern Hirnphilosophien durch
Para-dick und Para-dönn?
Überhaupt,
wenn verschrobene Wissenschaftler meinen, sich mit
Unschärferelationen und Unvollständigkeitstheoremen
gegenseitig einseifen zu müssen, um ihre hohen
Gehälter zu rechtfertigen, dann sollen sie das
tun, aber gefälligst mich und meine Garderobe
aus dem Spiel und dem Spiegel lassen.
Gestern
erst hatte mir einer von diesen Seifenphysikern, er
hieß Axel, geraten, mir vorzustellen,
ich stieße mit dem Kopf gegen den Spiegel und
der Spiegel existierte gar nicht. Wie bei Alice im
Wunderland, denn das sei angewandte Quantenphilosophie.
Hahahaha.
"Gut,
daß wenigstens dein Kopf existiert, um es zu
bezweifeln," hörte ich da eine Stimme sagen.
Wo kam die denn her? Ich war doch allein im Badezimmer,
oder etwa nicht? "Letztlich gibt es keine
Trennung zwischen Subjekt und Objekt, warum sollte
es da eine Trennung zwischen dir und dem Spiegel geben?"
Sprach da wieder die Stimme.
Da,
jetzt hatte ich sie lokalisiert. Sie kam aus dem Spiegel
überm Waschbecken. Zu meiner Beruhigung trug
das allerdings wenig bei. Der Spiegel sprach mit mir
und sprach, als sei ich jemand wie er, als sei
ich seinesgleichen. Ich rieb mir den Schlaf
aus den Augen, aber auch das half nichts.
Der
Spiegel nickte schweigend,
ohne daß ich meinen Kopf bewegt hätte
"Was
in einem beobachteten System geschieht, hängt
von der Beobachterin ab, also von dir", sagte
der Spiegel und äffte empörenderweise die
Bewegungen meines ungeschminkten Mundes nach, sogar
das Gähnen! "Die Beobachterin ist
Teil des experimentellen Kontinuums und schwebt nicht
irgendwo außerhalb desselben. Im subatomaren
Theater gibt es keine Zuschauer, die nicht zugleich
Schauspielerinnen wären und umgekehrt."
Ich
fühlte mich zu einer Erwiderung herausgefordert.
Ich habe zwar im Mathe-Abitur eine fünf, aber
ich habe auch meinen Stolz. "Das sind doch Prozesse,
die nur auf einer ganz bestimmten Ebene ablaufen,
" sagte ich, "in der Welt der Quarks und
Quanten, bei Elektronen und Positronen, also Teilchen,
die noch winziger als Atome sind. Bei den Proportionen
menschlicher Körper gelten aber doch andere Gesetze".
Ich straffte meine Figur und kam mir überzeugend
materialistisch, geradezu gutaussehend vor.
"Halt,"
rief da aber der Spiegel, "es gibt diese Teilchen
nicht als harte Materie sondern nur in Form von dissipativen
Dispositionen, als energetischen Wahrscheinlichkeitsfelder,
die sich nur dann zur Tatsächlichkeit verdichten,
wenn Sie sich auf der Raum-Zeit-Achse miteinander
kreuzen. Und du hast die Ehre, stehst mitten auf der
Kreuzung zu stehen, wenn auch spiegelverkehrt, aber
das macht weiter nichts."
Ich
grummelte mürrisch vor mich hin und beschwerte
mich über eine Physik, die es bei all ihrer durchgeistigten
Bizarrheit nicht schafft, sich mir gegenüber
verständlich auszudröcken. (Ganz zu schweigen
von der Tatsache, daß es die Physik nicht schafft,
mir neuen Kleider fürs Gehirn zu liefern.)
"Aber,
aber," kam gleich die etwas pikiert klingende
Antwort des Spiegels, "die Breitseiten aus der
Physik seit Einstein blieben doch nicht ohne Auswirkungen
auf die Neurologie! Auch dort ereignet sich, es läßt
sich nicht leugnen, ein Wechselschritt im Paradigmentanz.
" "Nicht
schon wieder!" Stöhnte ich und entsträhnte
meine Haare.
Stell
dir vor, du stößt mit dem Kopf gegen
den
Spiegel und der Spiegel existiert nicht
"Doch
doch," sagte der Spiegel ungerührt, "Es
gibt Fortschritte in der Neurochemie, man erfährt
etwas über ihr Wechselspiel mit elektromagnetischer
Gehirnaktivität, die Kenntnisse der Neurotransmitter
werden immer detaillierter und füllen schon Waschkörbe
voller Dissertationen.
Es
gibt Gehirnmodelle, die sich an der Informationsverarbeitung
des Computer orientieren, und zur Logik des Selbstbewußtseins
werden immer raffiniertere Vorschläge ent-
und wieder verworfen dank der Weiterentwicklung kybernetischer
Intelligenzmodelle ." "Aber das sind doch
alte Hüte, das kennen wir doch schon aus der
romantischen deutschen Transzendentalphilosophie,
Fichte, Hegel, Schelling usw."
Mit
meinem "usw." wollte ich vertuschen, daß
ich im Grunde nicht die geringste Ahnung von romantischer
deutscher Transzendentalphilosophie habe, dies vor
dem Spiegelbild aber nicht zugeben wollte. Also schöpfte
ich weiter aus dem Fundus meines halbgaren, halb an-
und halb ausgezogenen Halbwissens, und schwadronierte
öber die neuste Computergenaration, die sich
immer mehr an neuronalen, parallel-schaltenden Netzen
orientiere, wie man sie im Gehirn antrifft.
(Das hatte ich neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes
in einer Illustrierten gelesen, aber ich kam dran,
bevor ich den Artikel zu Ende lesen konnte.)
Da
der Spiegel interessiert zuzuhören schien, schämte
ich mich weder meiner noch seiner Anwesenheit. Das
unterschied mich schon mal von Adam im Angesicht von
Eva. Wo hatte ich nur dieses Zitat eines Biophysikers
und Kybernetikers aufgeschnappt, ich glaube, es war
einer der Begründer des Konstruktivismus, der
auf die Frage, ob es eine Beziehung zwischen Gehirn
und Computer gebe mit einem sibyllinischen: "Ja
und Nein" geantwortete hatte?
"Heinz
von Foerster war das," sagte der Spiegel zu meiner
Blamage, denn offenbar hatte er meine unveröffentlichten
Gedanken gelesen, "aber er fügte diesem
Rätsel noch etwas hinzu, er sagte nämlich:
"Kein Computer ist ein Gehirn, aber alle Gehirne
sind Computer" Zitatende. Das heißt, die
Logik stimmt, aber mit der Hardware haperts. Einen
Computer, der, wie das Hirn, in jeder Sekunde 10 Billiarden
Nervenimpulse verarbeitet, wirst du morgen und übermorgen
nicht auf dem Schreibtisch haben."
Während
dieser Ausföhrungen hatte ich weiterhin in den
Spiegel geglotzt und dort ein Gesicht gesehen, das
genauso aussah wie ich, und sich mit einem intelligenten
Gegenüber zu unterhalten schien. Meine Sprachlosigkeit
über diese ungewöhnliche Konstellation sich
zunutze machend, griff der Spiegel den Gesprächsfaden
wieder auf.
Ist
das Gehirn ein Computer?
"Ja und Nein"
Immerhin
hat die Verbindung zwischen Neurowissenschaft und
Computer eine wichtige Trendwende begründet:
das einfältige digitale Denken von Input/Output
weicht mehr und mehr einer komplexen bio-kybernetischen
Sichtweise. Information sind hier in Kohärenzen,
Resonanzen und Feldern eingebettet, sie organisieren
sich in autopoetischen Ordnungen und belebten Netzen
mit einem hohen Maß an Variabilität.
Diese Variabilität nutzt das Zentralnervensystem
- je nach Laune, Prägung und Bedürfnis -,
um neue, eigene Ordnungen zu entwickeln, vielschichtig
konstruierte Muster, die in alle Dimensionen erweiterbar
sind. Daß sie von uns als Realität begriffen
werden, ist ihre entscheidende tautologische Eigenschaft.
Die entsprechenden Daten müssen uns nur lange
genug zurückgespiegelt werden."
Da
haben wir den Salat! Dachte ich, denn ich wußte
inzwischen nicht mehr, ob der Spiegel, wenn er von
öunsö sprach, mich oder sich oder sonstwen
meinte. Außerdem sprach er einfach weiter. "Nimmt
man mal seinen eigenen kleinen Ego-Senf aus diesem
Salat heraus, dann ist Realität eine Art Geschichte,
die sich das Gehirn erzählt, um sein fortgesetztes
Navigieren im Raum-Zeit-Kontiunnum, sprich: sein Überleben
zu beschreiben.
Und
überleben kann es nur, solange es sich eine Geschichte
erzählt. Ein Gehirn ohne Geschichte ist wie eine
Lampe ohne Licht. Indem es diese Geschichte erfindet,
organisiert und erleuchtet sich das Gehirn. Basta!
Da die Komplexität des Überlebens bei steigender
Evolutionsrate zunimmt, wird auch die korrespondierende
Geschichte immer komplexer, die auf dem immer engmaschiger
werdenden neuronalen Netz erzählt wird, . "
Mir
dämmerte plötzlich etwas: "Spieglein,
Spieglein an der Wand," sagte ich und schaute
ihm fest in die Glasaugen, "willst du damit
behaupten, daß die Tatsache, daß ich dich,
ein redendes, anscheinend selbstbewußtes, quantenphilosophisches
Spiegelwesen jetzt real wahrnehme, willst du
sagen, daß dieser doch eher unkonventionelle
Umstand symptomatisch für das Wirken eines selbstreferentiellen
Gehirns ist, welches ein Realitätsventil
öffnet, um seinen autonomen Geschichtenerzähl-Modus
umzuorganisieren? Und das in meinem eigenen
Schädel, vor meinen eigenen Augen ?- Willst du
sagen, daß sich mein Gehirn damit seiner eigenen
Selbstreferenz die Reverenz erweist? Und sag mal,
macht das Gehirn das alles, ohne mich zu fragen?"
Das
Gehirn hat Realitätsventil
zum autonomen Geschichtenerzählen
Der
Spiegel seufzte halb mitleidig, halb schadenfroh:
"Komm dir bloß nicht so wichtig vor mit
deiner eitelkeitsgeschwängerten Paranoia. Dieser
Vorgang ist ein Krippenspiel för die Evolution,
no big deal fürs Hirn, hatten wir schon mehrfach
in diesem Theater. Selbst ist das Hirn, selbst ist
die Referenz.
Mag
sein, daß die neuen Bewußtseinsschaltkreise
den alten Instinkten anfangs wie ein UFO vorkommen,
aber die Macht dieser Instinkte geht vorüber
wie ein Schnupfen, während das UFO bleibt und
zum internen Selbstbild avanciert.
Der
Princeton-Professor Julian Jaynes zum Beispiel vertritt
in seinem Buch "Die Entstehung des Bewußtseins
durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche"
die These, daß das menschliche Bewußtsein
in seiner uns heute geläufigen Form erst vor
etwa drei- bis viertausend Jahren entstanden ist.
Bis dahin sei das Bewußtsein zweigeteilt gewesen,
sagt Jaynes. Ein Teil, vertreten durch innere, akustisch
halluzinierte Stimmen, die man der Einfachheit halber
"Götter" nannte, gab dem anderen, "Mensch"
genannten Teil Ratschläge, die dieser dann befolgte.
Zum
Beispiel Odysseus. Daß er seine Grand Tour durch
den Mittelmeerraum so glorios vollzog, verdankte er
nicht seinem Ich-Bewußtsein, denn das gab es
im Software-Angebot fürs altgriechische Hirn
gar nicht, sondern es lenkte ihn eine neuartige innere
Stimme an - er channelte sozusagen sein eigens Schicksal.
Erst
später, als diese bikamerale Psyche zusammenbrach,
verstummten die Götter und das Bewußtsein
wuchs in die integrierte Ich- und Ego-Fassung hinein,
iun der es heute steckt wie eine Glöhbirne in
der Fassung.
Dabei
beschreibt Julian Jaynes nur einen, zumal längst
vergangenen Wendepunkt aus einer unendlichen Parabel.
Odysseus war nicht die letzte Pirouette im Tanz der
autopetischen Möglichkeiten. Was aber passiert
heute? Welche Kammern des Bewußtseins werden
auf der jetzigen Koordinate der Evolutionsschraube
geöffnet?"
Daß
der Spiegel mir, ausgerechnet mir diese Frage stellte,
gab mir ein leicht plömerantes Gefühl in
der Magengegend. Plötzlich verspürte ich
einen neuen Respekt vor dem Ego in seiner althergebrachten,
wenn auch auf Primaten-Niveau stehengeblieben Version.
Vielleicht ist es, das Ego, ja doch nicht ganz so
schlecht wie sein Ruf.
Vielleicht
fahre ich besser, wenn ich beim ollen Ego-Bewußtsein
bleibe, auch wenns manchmal weghtut vor Langeweile.
Da weiß man schließlich, was man hat.
Bei diesen dubiosen Spiegelgöttern weiß
man das nicht. Immerhin, wer bin ich denn? (Das
dachte ich aber nur im Stillen vor mich hin.) "Wer
bin ich denn, wer bin ich denn? Oh Narziss! Was wird
aus mir, was wird aus mir, oh Sisiphus?" So grübelte
der Spiegel laut, schien mich aber eher zu karikieren,
statt meine Nöte ernst zu nehmen.
Meinte der Spiegel mich, sich oder sonstwen?
Im
Groll des verstandenwerdens kam mir eine Studie der
Gesellschaft für Rationale Psychologie, GRP in
den Kopf. Diese Gruppe von Wissenschaftlern untersucht
alle vier Jahre einige tausend Personen in standardisierten
Testsituationen. Es werden ihnen immer dieselben Reize
- z.B. Bilder, Geschmäcker - vorgegeben. Bei
den Reaktionen darauf - meßbar als Hautwiderstand,
EEG, Herzschlag etc., - haben sich aber in den letzten
Jahren dramatische Veränderungen gezeigt.
Und
zwar am meisten bei den nach 1949 Geborenen. Es scheint,
als seien die Gehirne dieser Generation anders gebaut
oder anders geschaltet als die vorangegangenen. Die
neuen Hirne verarbeiten Informationen schneller und
sie können mehrere Informationsstränge gleichzeitig
bearbeiten. Und hatte mich meine Mutter nicht wiederholt
, wenn auch vergeblich davor gewarnt, mehrere Bücher
parallel zu lesen, weil ich dann den Inhalt durcheinanderbrächte?
Gleichzeitig,
sagen die GRP Wissenschaftler, scheinen die neuen
Hirne all die vielen Informationen immer weniger gefühlsmäßig
zu "ankern". Diese Hirne sind nur noch halb
so betroffen wie einst. Im Neuro-Slang: Diese Gehirne
scheinen die Brücke zwischen Sehhirnrinde und
Stammhirn abgebrochen zu haben. Horror-Videos, die
bei den Eltern noch Brechreiz und Ekel auslösten,
konsumieren die Video-Kids gelangweilt bis achselzuckend.
Sie mokieren sich höchstens noch öber schlechte
Kameraföhrung und dilletantische Special Effects
.
Auch
bei anderen Reizen sinkt die Reaktionsschwelle: was
früher sauer oder bitter schmeckte, gilt heute
bestenfalls als flau. Stimuli, die früher erotische
Spasmen auslösen konnten, entlocken den Testpersonen
heute nur noch Gähnen und Grinsen. Was genau
diese Veränderungen bedeuten, worauf sie hinzielen
- wer kann, wer will es wissen? Die GRP Forscher spekulieren
bereits öber einen Phasenöbergang des Gehirns,
wie er bei dissipativen Strukturen beobachtet wird:
heftige, chaotische Turbulenzen begleiten den Wechsel
zur Stabilisierung in der nächsthöheren
Ordnung oder so ähnlich, oder wie es in deren
Vokabular auch immer heißt, dachte ich, während
ich mir die Zahnpasta auf die Zahnbörste drückte.
aus:
Geist, Gehirn, Gedankenwelten, connection Verlag,
Herausgeber: Johannes Holler, Micky Remann. Lutz Berger