Muzak,
2. Teil
Medical Muzak
Ist
Muzak wirklich nur akustische Astronautenkost, sterilisiert
und trivial bis zur letzten Synkope? Wenn man sieht, wie
sorgfältig das musikalische Material ausgesucht,
orchestriert und eingespielt wird, drängen sich Paralellen
mit lateinischer Lithurgie, gregorianischem Gesang, der
chinesische Fünftonmusik, ayurvedischer und altorientalischer
Musiktherapie auf. Und wie könnte Medical Muzak heute
aussehen?
Zum
ersten Teil: Medical Muzak
Medical
Muzal I: C.A.R.E.
Channel
Susan
Mazer und Dallas Smith, die Gründer des Healing HealthCare
Systems, sind inzwischen rund um die Uhr online - mit
einem Musikkanal für Krankenhäuser, Kliniken
und Therapiezentren, dem Was mit Musik begann, ist inzwischen
auch als TV-Kanal verfügbar: Naturaufnahmen und grafische
Imaginationshilfen, unterlegt mit ausgesuchter Musik -
dieses Krankenghausprogramm begeistert inzwischen die
Patienten von mehr als 30 großen Kliniken in den
USA.
Contiuous
Ambient Relaxation Environment
Der
CARE channel ergänzt das therapeutische Angebot,
ist automatisiert, kostet nur wenige Cent pro Patient
- und ist (nicht nur für Kranke) allemal besser als
das regilär TV-Programm.
Medical
Muzak II: Medigrace
Meditation
in der Medizin wird seit den 60ern dokumentiert und erwies
sich, wenn angewendet, als äusserst hilf- und erfolgreich.
Diesen Umstand nutzt Medigrace für seine therapeutischen
Audioprogramme. Die Non-Profit Abteilung der World Health
Foundation arbeitet seit 1991 an nicht-invasiven, meditativen
Programme im Gesundheitswesen. Medigrace produziert Audiorogramme
für Meditation, Stressbewältigung und sanfte
Geburt und basiert weitgehend auf den Forschungen der
Harvard University Medical School und der University of
Massachusetts.
Medical
Muzak III: Radio
Energon
Hierzulande
ist es "Energon - das psychologisch-medizinische
Musikprogramm", das medizinischen Standards genügt
und auf klinische Studien verweisen kann. Herausgegeben
von Prof. Hans-Helmut Decker-Voigt und Prof. Dr. med.
Ralph Spintge, besteht jedes Programm aus zwei CDs und
einem ausführlichen Beiheft. Inzwischen ist Radio
Energon auch online verfügbar, als nichtkommerzielles
und privates Engagement der Herausgeber und Produzenten
(www.radioenergon.de).
Medical
Muzak IV:
Bye, bye Innergy
First
Mover sind nicht immer erfolgreich. Das gilt auch für
Innergy, 1999 hoffnungsvoll als Brain/Mind Channel in
den USA gestartet und keider in den letzten Monaten eingestellt.
Und das trotz der Popularität der Mitbegründer
Dave Stewart, Deepak Chopra und Paul Allen. Innergy gehörte
dem US-Medienkonzern UPC, der Nr. 2 im europäischen
Kabel. In den USA bietet UPC "acht eigene TV-Kanäle
an - vom Militaria-Sender Avante bis zu Innergy, einem
von Eurythmics-Sänger Dave Stewart enwickeltes Angebot
für "Geist, Körper und Seele" (Focus)".
Deepak Chopra, der bereits zu Beginn der Neunziger im
Netz aktiv war, über die Pläne "einen
healing channel zu designen, ähnlich wie MTV, der
auf den Prinzipien der Farbe, des Klang und pyhsiologischer
Reaktion basiert und diese miteinander kombiniert. Wir
glauben, daß die amerikanische Öffentlichkeit
für einen solchen Kanal reif ist und suchen professionelle
Hilfe, um ihn zu realisieren."
Die
fanden sie in Medienprofis wie Morgan Mason und Eileen
Gregory, man entwarf ein 24-Stundenprogramm, das einen
sechstündigen Programmzyklus täglich viermal
wiederholte und wandte sich an ein Zielpublikum zwischen
34 und 70. Doch das Special Interest Programm für
Natur, Gesundheit, Lifestyle, Selbsthilfe und Fragen der
Partnerschaft wurde 2001 leider wieder geräuschlos
eingestellt. Schnief ... dafür hinterließen
sie ihren Fans einen kleinen Flash Comic mit Soundtrack,
den ich in memoriam vorstellen und präsentieren möchte
(falls sich jemanmd urheberrechtlich verletzt fühlt,
bitte melden). Er ist inzwischen wieder vom Netz, daher
- genießem Sie ihn so wie ich, als mediale kleine
Kostbarkeit und als Anker in die Zukunft: So können
funktionale Medien auch aussehen: when
everything is music
Medical
Muzak V:
Webchannels auf live365.com
Live365.com
ist eine Website, die mehr als 10.000 Radiostationen hostet,
meist private Playlists aus aller Welt. Hier finden Sie
alles, was Sie sich vorstellen können: von buddhistischen
Zeremonien über tibetanische Mantras, voodoo und
capoeira, heilige Mantras und Gesänge von Derwischen,
chinesische Heilmusik, Binaural Beats, Klangschalen aus
hochreinem Silizium, Chill und Ambient. Es kostet zwar
Zeit, sich einen Überblick über die 10.000 Stationen
zu verschaffen, aber einmal gespeichert, können Sie
sich ein Menue phantastischer Programme und Streams zusammenstellen,
auf das Sie bei Bedarf mit einem Click zurückgreifen
können.
...
und MP3.com
Ähnlich gelagert ist mp3.com, die ebenfalls tausende
privater Playlists anbieten. Hier finden Sie musiktherapeutische
Exotica, die Sie sich als MP3 Files zudem auf Ihre Festplatte
laden können. Allerdings kostet die Suche Zeit!
How
To Muzak
Aus
einer Arbeit von Jan Felix Frenkel, Musikwissenschaftliches
Institut der
Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, ein
Ausschnitt:
Wer
einkaufen geht, tut dieses sicher nicht wegen der schönen
Musik, die in vielen Kaufhäusern jeden Tag dem Kunden
präsentiert wird, ja vielleicht nimmt er sie noch
nicht einmal bewußt wahr. Wer sie wahrnimmt, dem
wird auffallen, daß sie sehr im Hintergrund gehalten
abgespielt wird. Daß dieses beabsichtigt ist, steht
außer Frage. Kaufhausmusik ist also eine Hintergrundmusik,
die vom Hörer, in diesem Falle vom "Einkäufer",
nicht bewußt wahrgenommen werden soll. Man bezeichnet
sie deshalb als funktionelle Musik, da sie nicht um ihrer
selbst willen produziert oder gehört wird. Sie wird
von außen einer bestimmten Situation zugefügt,
um spezielle, außerhalb der Musik liegende Ziele
zu erreichen.
Wie
aber stellt man eine solche Musik,
die
allen Ansprüchen genügen soll, her?
Die
Produktion erfolgt nach einem bestimmten Konzept, das
von Muzak, eine Firma, auf die ich an späterer Stelle
noch näher eingehen möchte, und anderen Firmen
entwickelt wurde, um jedem Musikgeschmack gerecht zu werden.
Die Produktionen werden nach einem immer gleichbleibenden
Muster zusammengestellt, das ich an dieser Stelle kurz
vorstellen möchte.
1.) Dem Hörer bekannte und vertraute Musiktitel werden
neu arrangiert. Eine direkte Identifizierung ist durch
eine geschickte Abmischung aber nur in den seltensten
Fällen möglich. Durch den hohen Bekanntheitsgrad
ist so eine positive Zuwendung garantiert. Die Neuabmischung
verhindert aber die zu starke Konzentration des Hörers
auf den Titel, anstatt auf das zu verkaufende Produkt.
2.) Die musikalische Struktur der Titel ist denkbar einfach
gehalten. Man erkennt kurze prägnante Motive, häufige
Motivwiederholungen, einfachste Harmonieverläufe,
komplikationslose Rhythmik und überschaubare symmetrische
Periodenbildungen innerhalb eines Stückes. Diese
Punkte gelten als Garantie für eine leichte Aufnahme
der Musik durch den Hörer.
3.)
Als Grundlage für das Tempo zählt der menschliche
Puls (ca. 70 Schläge/min)
Abweichungen
davon werden nur behutsam im Verlauf einer Programmsequenz
vorgenommen.
4.) In den Titeln wird gänzlich auf Sologesang verzichtet,
da durch ihn die Neigung besteht, genauer auf den Titel
zu hören oder gar den Text zu verfolgen. Eine Identifikation
des Hörers mit dem gerade singenden Star könnte
ihn außerdem von der Alltagssituation, in der er
sich befindet und deren Bewältigung ablenken.
5.) Die dynamische Breite ist auf einen gleichbleibenden
Lautstärkepegel festgelegt, der 3dB über dem
allgemeinen Geräuschpegel liegt.
6.) In den Titeln ist eine ausgewählte Instrumentation
erkennbar. So dominieren Verschmelzungsklänge und
werden schrille Klangkombinationen vermieden. Der Sound
wirkt entkernt, wird häufig synthetisch erzeugt und
durch viel Hall eingeebnet. Dadurch soll eine Auf- und
Eindringlichkeit vermieden werden.
Die
Darbietung der so produzierten Titel erfolgt unter der
Berücksichtigung spezieller Merkmale. Der Raum wird
gleichmäßig von verschiedenen Punkten aus beschallt.
Die Beschallung ist indirekt und es ist keine Klangquelle
identifizierbar. Um diesen Effekt zu erreichen, wird bei
einem Raum mit einer Deckenhöhe von 2,50m empfohlen,
aller 25m? einen Lautsprecher zu installieren. Da die
Bandbreite der Übertragungsfrequenzen begrenzt ist,
entfallen markante tief- und hochfrequente Klanganteile,
die dem Sound eine schärfere Kontur geben würden.
Bei Muzak beträgt diese Bandbreite etwa 40-8000Hz.
Die Musik erklingt nicht unbedingt kontinuierlich. Ein-
und Ausblendungen sind sogar sehr beliebt. So ist für
den Hörer kein eigentlicher Anfang und kein eigentliches
Ende eines Stückes erkennbar. Weiterhin werden alle
Einzeltitel unter den Gesichtspunkten der klanglichen
Abwechslung, der Tempobeschleunigung und der Tempoverlangsamung
zu Programmen zusammengestellt ...
Weiterhin
fällt auf, daß die Musikbeispiele in einer
Reihenfolge steigender Emotionalität angeordnet sind.
D.h., während der Spieldauer zieht das grundsätzlich
getragene Tempo etwas an. Dieses wird vor allem durch
die Gestaltung der rhythmischen Struktur erreicht, die
synkopischer, jazziger werden kann. Die steigende Aktivierung
einer Titelabfolge erfolgt durch ausgesprochen mechanische
Anweisungen, die die Variation der Parameter Tempo, Rhythmus,
Instrumentation und die Größe des Ensembles
vorsehen. So wird eine zunehmende Stimulation von MM=
60-80-100 innerhalb einer 15-minütigen Sendefrequenz
bewirkt. Auch die Anordnung langsamer Walzer, Fox, Samba
oder Streicher, Holzbläser, hohes Blech bewirken
eine zunehmende Stimulation.
Eine
weitere Besonderheit der Muzak-Musik sind die beschnittenen
Frequenzen oberhalb von 8000 Hz. So soll verhindert werden,
daß zu scharfe Konturen entstehen. Einerseits ist
dies wohl beabsichtigt, andererseits könnte es aber
auch mit den Mängeln des Vertriebes über Telefonleitungen
zusammenhängen. Eine von Muzak produzierte Sendesequenz
dauert ca. 15 Minuten und gliedert sich in etwa 6 Titel,
welche nach den genannten Gesichtspunkten variieren, sonst
aber anonym wirken. Die Häufigkeit in der die Beschallung
erfolgt, ist unterschiedlich. Werden die Titel von einer
Kassette abgespielt, so wird ihr Einsatz von einem Timer
geregelt. Da man bei Muzak erstaunlicherweise davon ausgeht,
daß Wiederholungen unzulässig sind, werden
dort bis zu 300 Titel pro Woche neu arrangiert und produziert.
Quelle:
www.musikwiss.uni-halle.de, Internetprojekt
am Institut für Musikwissenschaft Halle, Theorien
des musikalischen Hörens,
Musik im Kaufhaus von Jan Felix Frenkel
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zum ersten Teil: Muzak
Literatur:
de la Motte-Haber, Helga: "Handbuch der Musikpsychologie",
Laaber 1996, S. 215ff. / Fischer, Ludwig: "MGG, Band
6", Kassel 1997, Artikel "Musikpsychologie"
Sp. 1586. / Dalhaus, Carl: "Neues Handbuch der Musikwissenschaft",
Laaber 1982, Rötter,
Günther; Plößner Catrin: Über die
Wirkung von Kaufhausmusik, in: "Jahrbuch der Deutschen
Gesellschaft fŸr Musikpsychologie", Band 11 1994,
S.154ff.