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Die Interviews

Drei Gespräche rund um MusikMedizin in der Praxis, von Isis Herzog für Energon, dem medizinisch-psychologischen Musikprogramm

Interview mit Prof. Hans-Helmut Decker-Voigt

Interview mit Prof. Friedrich-Karl Maetzel


Musik - eine substantiell echte Hilfe zur Selbsthilfe

Interview mit dem Anaesthesisten, Schmerztherapeuten und
MusikMediziner Prof. Dr. Ralph Spintge
 
(Vorsitzender der International Society for Music in Medicine, ISMM) über MusikMedizin. Das Interview führte Isis Herzog.

F.:       Dr. Ralph Spintge, Sie prägten den Begriff MusikMedizin - was meint dieser Begriff?
A.:       Dieser Begriff meint die Anwendung von Musik in medizinischen Anwendungsbereichen.

F.:       Parallel zu klassischen schulmedizinischen Anwendungen?
A.:       Richtig, als Adjuvans oder als komplementäres Verfahren.

F.:       Wie kam es zu dieser Art von therapeutischer Zusatzbehandlung?
A.:       Wir haben uns schon vor mehr als zwanzig Jahren Gedanken gemacht, wie wir den seelischen und psychologischen Nöten unserer Patienten besser gerecht werden könnten. Ich komme ja eigentlich aus der Anaesthesiologie - also ich bin Narkosearzt von der Ausbildung her - und für jeden Patienten bedeutet eine Narkose ein sehr streßreiches Erleben, das mit vielen Ängsten und vielen Schmerzen verbunden ist.
Hier setzt man normalerweise Psychopharmaka ein, um diese Ängste zu dämpfen. Diese Medikamente haben aber nur einen unzureichenden Effekt und sie haben natürlich auch Nebenwirkungen - wie jedes andere Medikament. So haben wir sehr bald versucht, hier mit Musik zu helfen und das ist auch erfolgreich möglich.

F.:       Wie erlebt denn der Patient das Helfende?
A.:       Für den Patienten bedeutet die Musik, nach den Angaben, die wir von unseren Patienten erfragen, zunächst einmal eine seelische Stütze, eine Ablenkung, auch eine Möglichkeit, sich in eine andere Situation zu begeben. Z.B. die Jugend, die sich Techno wünscht für die Narkose, versetzt sich innerlich dann in die Situation in der Disco. Für die älteren Menschen ist es vielfach einfach der Genuß an der Musik, also ein schönes, klassisches Musikstück zu hören. Für Männer ist auch Marschmusik gefragt, quasi als innere Stütze. Das gilt für akute Streß- und Schmerzsituationen. Im Bereich chronischer Schmerzen, wo ich heute hauptsächlich tätig bin, müssen wir andere Musiken einsetzen und sind auch die subjektiven Effekte auf die Patienten andere.

F.:       Sind die subjektiven empfundenen Aspekte mit den objektiv meßbaren Parametern identisch?
A.:       Ja. Als Anaesthesisten, die wir immer alles Lebensnotwendige wie Herzfunktion, Atmung usw. messen müssen, haben wir natürlich auch gemessen, was die Musik denn verändert, wenn wir sie dem Patienten geben und haben das dann mit den Patienten verglichen, die keine Musik bekamen. Da haben wir feststellen können, daß im Blut z.B. die Ausschüttung von Schmerz- und Streßhormonen durch Musik vermindert wird, daß man im Hirnstrombild einen schlafnahen Zustand   herbeiführen kann, indem man Musik zur Narkosevorbereitung einspielt. Oder daß man im Bereich der Schmerztherapie z.B. Beruhigungsmittel und Schmerzmittel einsparen kann. So haben wir eine ganze Reihe von objektiv meßbaren Parametern der Musik zugute schreiben können.

F.:       Wenn Sie davon sprechen, Mittel einsparen zu können, dann müssen das ja sehr deutliche Wirkungen sein, die der Musik hier zuzuschreiben sind.
A.:       Ja, in der Tat. Es ist z.B. so, daß ich im Rahmen der Schmerztherapie bei akuten Bandscheibenvorfällen Spritzen in die Nähe des Rückenmarkes verabreichen muß, um einen solchen Bandscheibenvorfall zu verkleinern. Diese Prozedur an sich ist relativ unangenehm. Man kann dem Patienten zur Vorbereitung oder zur Erleichterung ein Beruhigungsmittel geben – oder man kann ihm Musik geben. Wir haben das nun verglichen. Wir haben Gruppen von Patienten mit der Beruhigungsmittel-Versorgung verglichen mit denen, die Musik bekamen und haben feststellen können, daß sowohl im subjektiven Empfinden wie auch in den objektiv meßbaren Parametern die Musik-Patienten wesentlich besser dran waren. Heute ist es so, daß ich für diese Art des Eingriffes meist nur noch Musik einsetze  und überhaupt keine Beruhigungsmittel mehr!

F.:       Das heißt, Sie "behandeln" mit Musik und sparen gleichzeitig an Medikamenten?
A.:       Richtig. Wir sparen immerhin soviel - um wieder in den Narkosebereich zu gehen - daß wir die Investitionen, die wir einsetzen mußten, um so etwas wie eine Musikanlage betreiben zu können, innerhalb von vier Jahren zurückverdienen konnten.

F.:       Haben Sie reguläre klinische Studien gemacht?
A.:       Ja. Um einen Standard zu gewährleisten, der der normalen medizinischen Forschung entspricht, haben wir solche Untersuchungen vor allen Dingen als medizinische Doktorarbeiten, als musiktherapeutische Diplomarbeiten und als musikpädagogische Diplomarbeiten durchgeführt. Und im Rahmen dieser Doktorarbeiten sind die genannten Parameter wie z.B. Streßhormonspiegel und Medikamentenverbrauch gemessen worden.

F.:       Haben sie auch schon Menschen behandelt, die die gleiche Behandlung mit und ohne musikalische Hilfe erlebt haben?
A.:       Ja, vor allen Dingen die ältere Generation natürlich. Obwohl die Anwendung von Musik in der Medizin schon sehr alt ist, wird sie routinemäßig nur an sehr wenigen Orten angeboten. Und so gibt es eben viele Patienten, die andernorts schon einmal eine Behandlung ohne Musik hatten und die dann zu uns gekommen sind und mit Musik das Ganze nun noch einmal haben über sich ergehen lassen müssen. In unseren Postnarkose-Fragebogen oder Nachbehandlungs-Fragebogen, die wir jedem Patienten geben, fragen wir auch ab: Würden Sie sich denn beim nächsten Mal, im Vergleich zu den vorhergehenden Eingriffen, wieder Musik wünschen?  95 Prozent der Patienten kreuzen hier Ja an.

F.:       Was sagen denn die Patienten, wenn sie einen solchen Eingriff mit Musik erlebt haben?
A.:       Die Reaktionen der Patienten sind auf der einen Seite sehr ähnlich und auf der anderen Seite sehr unterschiedlich. Sehr ähnlich in der Beziehung, daß man sagen kann, es ist eigentlich immer eine Hilfe. Es gibt nur ganz wenige Patienten, etwa so um die 2 Prozent, die sagen, "ich hätte doch lieber mein Autogenes Training gemacht" oder "ich hätte lieber gebetet". Die übrigen, die weitaus große Mehrzahl sagt, "es war eine Hilfe".

F.:       Ist denn für Sie als Arzt, als Handelnder am Patienten, die Musik ebenfalls eine Unterstützung? Sie haben es da ja nun mit völlig neuen Geräten zu tun, die Patienten tragen Kopfhörer usw.
A.:       Es ist in jedem Fall nicht nur für den Arzt, sondern auch für das Pflegepersonal eine deutliche Erleichterung. Ich kann das vielleicht am Beispiel der Geburtshilfe am besten veranschaulichen. Der Kreißsaal ist das Gebiet, in dem die Hebamme das Regiment führt.

Wir haben hier eine Untersuchung mit 200 gebärenden Frauen gemacht, und die verglichen mit einer Gruppe, die keine Musik bekam. Am Anfang hatten wir sehr große Probleme, die Skepsis der Hebammen zu überwinden. Eine der Begründungen für diese Skepsis war, "es ist zusätzlicher Aufwand für mich, zusätzliche Technik" usw. Das ist, als die Studie dem Ende entgegenging, ins genaue Gegenteil umgeschlagen, und heute ist die Musik da gar nicht mehr wegzudenken! Warum? Weil die Hebammen gemerkt haben, daß der ganze Ablauf, viel harmonischer war, daß sie viel weniger gerufen wurden. Die Frau liegt ja nun einige Stunden im Kreißsaal, und wir können nicht jeder Gebärenden ständig eine Hebamme zur Seite geben. Diese Häufigkeit des Rufens sinkt also deutlich herab, und das ist natürlich eine angenehme Begleiterscheinung. Für mich als Arzt ist es einfach schön zu sehen, daß man den seelischen Nöten eines angst- und schmerzgeplagten Patienten abhelfen kann und auf der anderen Seite, daß man so eine bessere Organisation, einen harmonischeren Ablauf im täglichen Arbeitsgeschehen erreicht.

F.:       Musik und Schmerz - welche Beziehung gibt es da?
A.:       Nun, in der Schmerztherapie, also bei chronischen Schmerzen, setzt man immer mehrere verschiedene Verfahren gleichzeitig ein, um dem ganzheitlichen Problem Schmerz zu Leibe rücken zu können. Denn der Mensch hat nicht nur körperlich empfundenen Schmerz, er hat ja auch seelisches Leid. Denken Sie an Migräne z.B., die ja Menschen geradezu in den Wahnsinn treiben kann. Musik ist längst ein fester Bestandteil unseres Behandlungs-Regimes - gar nicht mehr wegzudenken!

F.:       Schmerzen können ja sehr empfindsam machen. Ist Musik da nicht etwas, was als zusätzliches Geräusch vielleicht sogar stört?
A.:       Das ist richtig, es kommt darauf an, was für Musik Sie einsetzen. Sie muß nach der Anwendungssituation und nach der betreffenden Gruppe von Menschen  ausgewählt sein. Ich setze im Bereich der Schmerztherapie völlig anders strukturierte Musik ein, als ich sie z.B. zur Narkosevorbereitung und -begleitung einsetze.

Ein Beispiel ist der Rhythmus. Wenn ich eine akute Streßbelastung, einen akut von Angst oder Schmerz geplagten Patienten habe, dann muß ich ihm rhythmisch betonte und strukturierte Musik anbieten. Während – wenn ich einen Schmerzpatienten habe, der chronisch unter Schmerzen leidet, dann ist für diesen jede weitere feste Struktur, wie ein musikalischer Rhythmus, ein zusätzlicher Gitterstab in seinem Gefängnis. Also muß die Musik möglichst rhythmisch unstrukturiert sein, oder Sie muß einen deutlichen Wechsel zwischen rhythmischer Struktur und freien Klängen anbieten.

F.:       Wenn Sie jetzt aus Ihrer Erfahrung heraus Ihre Traummusik für Patienten mit chronischen Schmerzen produzieren würden, wie würde die aussehen?
A.:       Die Musik wäre sehr unterschiedlich aufgebaut. Sie müßte einen Anfangsteil besitzen, mit dem ich den Menschen in der Situation, in der er sich psychologisch befindet, abhole. Das heißt also, sie müßte den sehr hohen Streß- und Schmerzzustand des Patienten, den Verkrampfungszustand, den Zustand des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit berücksichtigen. Indem ich ihn zunächst mit einer Art Aha-Effekt dort musikalisch abhole. Dann müßte die Musik diesen Zustand herunterführen in den Zustand - sagen wir mal - Ausgeglichenheit und Aufgeheitertsein. Aber da darf es nicht stehenbleiben. Denn der Mensch soll ja anschließend in der Lage sein, möglichst sein normales tägliches Leben wieder aufzunehmen. Die Musik muß ihn innerlich wieder aufbauen. Sie muß ihn soweit aktivieren, daß er wieder den täglichen Anforderungen, z.B. am Arbeitsplatz genügen kann. Das heißt, anfangs aus einem emotional negativen Streßzustand herausholen, in eine Entspannung hineinführen und wieder in Richtung positives Gefühlsleben und Motiviertheit aufbauen.

F.:       Bedeutet das, daß die schmerzlindernde Wirkung über den Moment des Hörens dieser Musik hinaus wirkt?
A.:       Ja, wir haben auch solche Dinge messen können. Wir haben in einigen unserer Untersuchungen, nachdem wir die Musik beendet hatten, einfach unsere Messungen weiterlaufen lassen. Streßhormonspiegel im Blut, Blutdruckmessung, Herzfrequenzmessung und ähnliches und haben feststellen können, daß bis zu einer Stunde nach Ende der Musikdarbietung diese positiven Effekte anhielten. Wir haben dann leider diese Messungen aus technischen Gründen abbrechen müssen, aber es gibt durchaus auch Beobachtungen, die von Effekten über Tage hinweg sprechen.

F.:       Muß die Musik sehr lang sein, um eine solche Nachwirkung zu haben?
A.:       Nein, sie muß nicht sehr lang sein, wobei das natürlich ein relativer Begriff ist. Es hat sich eine Länge von 8 bis 14 Minuten als optimal herausgestellt.

F.:       Heißt das, daß wenn sich ein von chronischen Schmerzen geplagter Patient mehrmals am Tag diese Art Musik etwa 10 Minuten lang anhört, daß er eine wirklich deutliche Linderung erhoffen kann?
A.:       Ja, und das ist auch in unserer täglichen Arbeit zu beobachten. Da wir ja unseren Patienten ständig Musik anbieten, gibt es auch sehr, sehr viele Patienten, die fragen "kann ich diese Kassette oder diese CD auch irgendwo erwerben oder wo kann ich sie mir bestellen?". Dann sagen wir natürlich "gehen Sie in den Buchhandel oder in ein bestimmtes Geschäft, da gibts solche Musik." Wobei man allerdings sagen muß, daß sie für viele Patienten zwar eine Hilfe sind aber noch nicht optimal, weil die Strukturmerkmale, die ich vorhin aufgezeigt habe, von den vorhandenen Musiken kaum erfüllt werden. Wir haben es dann so gemacht, daß wir, rein technisch gesehen, verschiedene Musiken zusammenmischen und "addieren", um den entsprechenden Effekt zu haben. Die sind bisher aber käuflich nicht zu bekommen.

F.:       Ist denn, um diesen Effekt zu unterstützen, ein gewisses „ritualisiertes Hören“ notwendig?
A.:       Man sollte sich eine bestimmte Situation schaffen. Wobei das nicht mißzuverstehen ist. Das heißt nicht, daß man sich zu Hause eine kleine Höhle einrichten muß mit einem Sofa, gedämpfter Beleuchtung und einer Musikanlage. Das kann z.B. auch bedeuten, daß man am Arbeitsplatz in der Mittagspause, wenn man die schmerzhaften Muskelverspannungen im Schulterbereich an seinem PC-Arbeitsplatz wieder auflockern will, daß man sich auch in dieser Situation täglich seine Musik zu Gemüte führt.

F.:       Kann Musik heilen?
A.:       Nein. Musik ist sicher kein Heilmittel! Musik ist nur eine unterstützende Maßnahme, zu anderen therapeutischen Maßnahmen oder auch zu Maßnahmen der Selbsthilfe. Jeder Mensch weiß ja, daß Sport z.B. gesund ist, körperliche Bewegung und Aktivitäten gesund sind, sich überhaupt mal etwas Schönes zu gönnen, wie ins Konzert gehen und solche Dinge – die  kennen wir ja, die wissen wir ja alle – nur, wer tut es? Und wer kann es in der heutigen Hektik? In dem Sinne kann diese Musik eine echte Hilfe sein.

F.:       Also Walkmann statt Pille?
A.:       Mit Einschränkungen - ja. Vielleicht, besser gesagt, Walkman und Pille!

F.:       Was ist Ihre Prognose für die Zukunft in Bezug auf Musik und Gesund Sein, Musik und ihre heilsame Wirkung?
A.:       Ich sehe das von einem ganz bestimmten Gesichtspunkt her. Wir werden aus den verschiedensten Gründen mehr Verantwortung für unsere eigene Gesundheit übernehmen müssen. Einmal aus Kostengesichtspunkten heraus. Aufgrund der Altersentwicklung in der Gesellschaft werden wir einfach nicht mehr mit unserem Krankenkassen-Beitrag auch unsere Gesundheit kaufen können. Mit dieser Einstellung kommen ja heute noch viele Menschen zum Arzt. Wir werden also mehr Hilfe zur Selbsthilfe leisten müssen. Hier wird Musik nach unseren Erkenntnissen und nach unserer Erfahrung eine substantiell echte Hilfe sein können. Wobei man sich auch vorstellen kann, daß man nicht nur bei der Musik stehenbleibt, sondern daß man sie auch mit optischen Reizen verbindet. Stichwort Multimedia, hier eröffnen sich ja völlig neue technische Möglichkeiten. Der Mensch ist ja nicht nur ein Hör-Wesen, er ist auch ein Seh-Wesen, er fühlt, er schmeckt, er riecht. Und da das moderne Leben die verschiedenen Sinne arg strapaziert, Stichwort Lärmbelästigung, Geruchsbelästigung am Arbeitsplatz, Straßenverkehr und all diese Dinge - kann man sich durchaus vorstellen, daß man eine Multimedia-Hilfe für den Menschen schaffen könnte.

F.:       Es gibt häufig die spontane Reaktion, das ist doch alles Esoterik, das ist doch alles Quatsch.
A.:       Nun, wenn man sich anguckt, was auf dem Markt an Musik angeboten wird mit einem – ich will mal vorsichtig formulieren - gewissen therapeutischen Anspruch, dann findet man diese Dinge in den allermeisten Fällen tatsächlich in der Esoterik-Ecke der Buchhandlung oder über entsprechende Verlage. Nachteil dieses Angebotes ist nur, daß es meines Wissens nach aus ärztlicher und medizinischer Sicht nicht auf seine Wirksamkeit überprüft wurde. Und jeder Arzt, der z.B. ein solches Stück Musik empfehlen würde, hätte ja gar nicht hinterfragt, ob es seinem Patienten auch wirklich den Nutzen bringt, den er vermutet. D.h., wenn ich eine Musik als Unterstützung für andere medizinische Maßnahmen einsetze, muß ich doch geprüft haben, ob sie überhaupt die gewünschten Effekte und welche Nebenwirkungen sie eventuell hat. Ich will nur einen Punkt ansprechen: Es gibt in der Weltliteratur mehr als 70 dokumentierte Fälle von – wie wir sagen – musikogener Epilepsie, d.h. also durch Musikanhören ausgelöste epileptische Anfälle. Jeder Mensch kann sich vorstellen, daß ein Patient nach einem Herzinfarkt durch Marschmusik beispielsweise nicht unbedingt positiv unterstützt werden kann. Und so gibt es halt viele Dinge, die da beachtet werden müssen.

F.:       Gibt es noch etwas, das Sie von sich aus gerne sagen möchten?
A.:       Ich würde gern noch einen Wunsch äußern, der sich vor allen Dingen an meine Kollegen und Kolleginnen richtet: die mittlerweile angesammelten Erfahrungen und das Wissen über das Wesen von Musik im Gesundheitswesen im weitesten Sinne doch zu nutzen.

Das Interview mit Audiofiles

Das Feedback der Patienten ist eminent

Interview mit Prof. Hans-Helmut Decker-Voigt Ph. D. (Dr. phil.) M.A., (Psychologe, Lehrstuhlinhaber für Musiktherapie und Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg) zu den psychischen Wirkungen von Musik im Kontext Rehabilitation und Gesund Sein.

F.:       Gibt es einen klaren Unterschied zwischen der Musiktherapie und der sogenannten funktionalen, rein rezeptiven Musik?

A.:       Zum Beispiel den, daß Musiktherapie die Anwesenheit einer qualifizierten musiktherapeutischen Fachkraft voraussetzt. Sie kann den Patienten mit seinem psychischen, seinem emotionalen und seinem ganzheitlichen körperlichen Sein in der Krankheit begleiten. Alle übrigen Bereiche, in denen der Patient mit Musik allein ist, wo die Funktion von Musik allein und nicht mehr die therapeutische Persönlichkeit auf den Patienten wirkt, wären ganz klar in Richtung funktionaler Musik zu sehen.

F.:       Wenn ein Musiktherapeut in einer Klinik arbeitet, wie Sie das beispielsweise in der Curschmann-Klinik für kardiologische Rehabilitation gemacht haben, wie sieht das dann konkret aus?

A.:       Konkret sieht das so aus, daß wir in einem ersten Setting über die Bedeutung und die Erfahrung der Musik im Leben dieses Patienten reden – also eine Art musikalische Anamnese machen.  Und in Verbindung mit der Herzerkrankung wird  mit dem Patienten nachgeschaut, wo sich die Ecken, die Haken, die Probleme und die Belastungen in seinem Lebenskonzept  von ihm selbst sehen lassen. Und dann gibt es zum Beispiel in der aktiven Musiktherapie die Möglichkeit, wenn man sich „in der Enge fühlt“, dieses Gefühl von "in der Enge fühlen", unter Druck, auch in die Improvisationsarbeit einzubringen.

"Können Sie sich vorstellen", frage ich dann, "daß Sie einmal das Gefühl Ihrer Enge auf Instrumente übertragen, auf das Summen von einem Ton übertragen?" Dann gehen wir mit dem Patienten in dessen Enge – musikalisch. Natürlich ist das Ziel dabei, daß er in dieser Arbeit im Gespräch, wie in der Musik, auch das erfährt, und erleben kann, wonach er sich sehnt: Weite. Enge ist, nicht nur mit Angst verbunden, woraus viele Herzerkrankungen und -belastungen entstehen.Enge ist auch oft ein sehr hilfreiches Symptom dafür, daß etwas der Belastbarkeitsgrenze entgegenjagt. Ohne das Gefühl von Enge und Angst, ohne eine Erkrankung, würde ja ein Patient in diesem ihn weiterbelastenden Konzept weiterjagen. So, und in der Musiktherapie können wir sowohl in dem eigenen instrumentalen Ausdruck diese Probleme praktisch darstellen und miteinander betrachten, als auch in gehörter Musik.

F.:       Sie haben ja in der Curschmann-Klinik Timmendorfer Strand mit dem Chefarzt Prof. Maetzel zusammen ein Forschungsprojekt  "Musiktherapie in der cardiologischen Rehabilitation" durchgeführt. Arbeiten Ihre ehemaligen Patienten zu Hause weiter mit Musik?

A.:       Patienten, die in der stationären Phase bei uns waren und entlassen sind, haben alle nach zwei Monaten einen Brief bekommen und eine Musikkassette. Auf der Kassette war die Musik, die in der Therapie in der Klinik mit ihnen zusammen gehört und gespielt wurde. Das Feedback der Patienten ist eminent. Wir haben über 70 % Rücklaufquote von Patienten gehabt, die sagten: wir haben dieses Ritual des Musikhörens mit dieser Kassette und auch anderen Musiken mindestens zwei- bis dreimal in der Woche mit einer halben Stunde zu einem festen Bestandteil unseres Arbeitens mit uns selbst gemacht. 

F.:       Als Präsident des 8. Weltkongresses für Musiktherapie im Juli ´96 haben Sie den Trend hin zu mehr rezeptiver Musik bemerkt. Findet da ein Aufeinandergehen verschiedener Richtungen statt - kann man das so sagen?

A.:       Ich möchte es so differenzieren. Auf dem Weltkongreß ist nicht ein Trend zunehmender rezeptiver Verfahren in der Musiktherapie zu beobachten gewesen, sondern wir, speziell in der deutschen Musiktherapieszene, haben in den letzten 15 Jahren weitgehend aktive Musiktherapie, improvisierte Musik entwickelt. Erst bei dem Blick über die eigenen Grenzen hinaus - es waren ja 43 Nationen aus allen Kontinenten anwesend - haben wir mit Erstaunen festgestellt, wieviel umfangreicher die Entwicklung der rezeptiven Verfahren in anderen Ländern ist.

F.:       Können Sie sich vorstellen, daß und auch wie ein niedergelassener Arzt im Kontext chronischer Erkrankungen mit seinen Patienten mit Musik arbeitet?

A.:       Musik in der Medizin heißt, daß sich ein Arzt, auch sehr viel mehr als bisher, in der Anamnese danach erkundigen sollte, wie die Beziehung des Patienten zu Musik ist. Und wenn da ein besonders guter Bezug vorliegt, dann wäre das eine sehr gute Hilfe, wenn der Arzt auf den wichtigen Faktor "Musik zu Hause" aufmerksam machte.

F.:       Was kann ich als Patient tun, wenn ich Musik und ihre heilsame Wirkung unterstützend für die Behandlung meiner Krankheit wählen will?

A.:       Ein Mensch, der in einem Erkrankungszustand oder in einer Rekonvaleszenz lebt, oder sich prophylaktisch vor Krankheiten schützen will, sollte nicht sofort einfach zu seiner Musik nach Hause rennen und sagen „ach wie gut, ab heute ist Musik sozusagen Medizin für mich, weil mir das mein Arzt empfahl". Er sollte sich einstimmen und z.B. etwas lesen: wie Musik mit gezielter Wahrnehmung in ihren einzelnen Bausteinen (Kraft, Rhythmus, Melos also Melodie) untersucht werden kann und was sie mir auf mich selbst bezogen sagt  Das kann ein Patient lernen – aber er muß es lernen!

Das Interview mit Audiofiles

Musik hat eine sehr starke Eigenwirkung

Interview mit Prof. Dr. med. Friedrich-Karl Maetzel (Chefarzt der Cursch-mann-Klinik Timmendorfer Strand, Kardiologische Rehabilitation) zu der Studie über Musik in der Arbeit mit Herzkranken, die er mit dem Musikthe-rapeuten Prof. Hans-Helmuth Decker-Voigt an seiner Klinik machte.

F.:       Wie kam es dazu, daß Sie Musik in Ihrer Klinik einsetzten?
A.:       Sie wissen, in einer Herzklinik sind vorwiegend Menschen, bei denen seelische Dinge beim Krankwerden oder zumindest bei der Verarbeitung ihrer Krankheit eine große Rolle spielen. Und bekanntermaßen ist Musik eine der Möglichkeiten, Zugang zu Patienten zu bekommen, sie dazu zu bringen sich zu öffnen, über ihre Probleme zu sprechen und damit auch dem Arzt oder auch dem kundigen Therapeuten die Möglichkeit zu geben, bei ihnen therapeutisch wirksam zu werden.

F.:       Haben Sie Musik nur ihrer psychologischen Wirkungen wegen eingesetzt oder auch in einem "mediakamentösen" Sinne?
A.:   Jede Weise, in der ich in der Klinik bisher Musik eingesetzt habe und einsetze, hat für mich einen therapeutischen Ansatz, der mit dem von bestimmten Medikamenten vergleichbar ist. So hat z.B. beruhigende Musik, was Beruhigungsmittel betrifft,  durchaus einen medikamentensparenden Effekt. Auch was sogenannte Betarezeptoren-Blocker, also den Kreislauf bremsende Medikamente betrifft. Es gibt ja auch noch einen anderen Weg, wie man in der Herzklinik Musik einsetzt. Das ist die motivierende, die mobilisierende Wirkung. Das heißt, unsere Patienten bewegen sich, wenn sie ihre Übungsprogramme machen, nach Musik und werden durch die Musik mitgerissen oder angespornt. Und fast unmerklich werden sie immer belastbarer und beweglicher - durch Musik.   

F.:       Gibt es Wirkungen der Musik, die rein körperlich sind?
A.:       Es gibt sehr schöne Untersuchungen darüber, wie sich die Muskeln verhalten, ohne daß man es sieht. Sie bewegen sich oder ziehen sich in einer rhythmischen Form zusammen. Und das ist eine direkte Wirkung der Musik.

F.:       Können Sie aus Ihrer Studie heraus sagen: ich setze ganz bestimmte Musiken ein und habe ganz bestimmte Wirkungen auf den Herzpatienten?
A.:       Ja, das gibt es. Das Beste ist aber immer noch - und dazu rät auch jeder Musiktherapeut - durch Kennenlernen des Patienten, durch das Auswahlgespräch, die Musik herauszufinden, die für den Patienten etwas Beruhigendes haben könnte. Oder eher etwas Aufregendes oder Belastendes. Da ich ein solches  Auswahlgespräch selbst nicht führe, habe ich eine Palette von Musik, bei der ich weiß, daß sie mit großer Wahrscheinlichkeit bei fast jedem eine beruhigende Wirkung hat. Und ich habe andere Anteile, auch in diesen Musikstücken selber, von denen ich genau weiß, sie werden jetzt vorübergehend zu einer Erregung führen.

F.:       Heißt das, daß durch Ihre Studie Daten gewonnen wurden, mit deren Hilfe Sie eine Musik zusammenstellen könnten, die für herzkranke Menschen hilfreich ist?
A.:       Ja, genau so ist es. Und ich halte jeden Ansatz, bei dem man eine solche Musik zusammenstellt, die möglichst für viele Patienten die gleiche erwünschte Wirkung hat, für sinnvoll.

F.:       Wie reagieren eigentlich die Patienten, wenn sie im Klinikalltag unverhofft Musik zur Verfügung gestellt bekommen?
A.:       Da muß man sich einmal in das Leben einer solchen Herzklinik hineinversetzen. Die Patienten kommen nach einem sicher sehr eingreifenden, ihr Leben oder ihre Existenz in Frage stellenden Ereignis, in die Klinik. Alles, was sie bis jetzt gehört haben, womit sie sich gedanklich befaßt haben, dreht sich um die Krankheit. Sie kommen dann für eine Anschlußheilbehandlung in die Klinik, und sind äußerst skeptisch. Sie sind auch sehr verletzlich. Sie sind gegen jeden, der sich ihnen widmen will, zunächst mißtrauisch. Sie tauen langsam auf. Und dann gibt es einen Moment, in dem, wenn man den Patienten unverhofft mit einer für ihn schönen Musik konfrontiert, der Patient geradezu einen Schmelzeffekt erleidet. Er weint oder er ist eben bewegt. Selbstverständlich gibt es Patienten, für die die Musik nicht diese Wirkung hat. Aber ich kenne ganz viele, bei denen die Musik mitten in dieser doch sehr krankheitsbezogenen Klinikwelt eine fast erlösende und zunächst mal therapiefremde, sehr starke Eigenwirkung hat.

F.:       Was bleibt den Patienten nach Abschluß der Therapie mit Musik in Ihrer Klinik?
A.:       Was wir auf jeden Fall garantieren, ist, daß sie die Musik, unter der sie dieses von mir Schmelzeffekt oder Auftauphänomen genannte Erlebnis hatten, auf Kassette zugeschickt bekommen und sich jederzeit wieder selber anhören können, denn diese Musik ist ja sozusagen beladen mit der Erinnnerung an die schöne Therapie in der Klinik. Es ist eindeutig so, daß die Patienten oft auf diese Musik zurückgreifen. Denn, selbst nach dieser Rehabilitations-Phase in einer Herzklinik, ist man, wenn man dann nach Hause kommt, nicht schon gleich von allen Krankheitsphänomenen und Bedrückungen der Krankheit befreit. Man braucht noch lange Zeit, um dies zu vertiefen und zu konsolidieren.

F.:       Was ist Ihre Prognose für die Zukunft in Bezug auf Musik und Gesund Sein?
A.:       Ich glaube, je mehr Leute es gibt, die sich in Musiktherapie fachkundig machen, desto mehr wird sich die Musiktherapie als eine, den Menschen ganz besonders ansprechende, sehr natürliche Methode etablieren. Und ich kann mir nur vorstellen, daß immer mehr Ärzte auf die Musik als Hilfsmittel, vielleicht manchmal sogar als alleiniges Therapeutikum, zurückgreifen werden. Wobei ich sie auch als Hilfsmittel bei Ärzten sehe, die z. B. in lokaler Anaesthesie operieren oder andere Therapien durchführen, bei denen der Patient entspannt oder schmerfrei sein soll.

F.:       Sprechen Sie da auch von rezeptiv-funktionaler Musik?
A.:       Ja, da spreche ich genauso von rezeptiv-funktionaler Musik. Rezeptiv heißt im Grunde, daß die Patienten eigentlich nur hören und auf sich wirken lassen. Es wäre nur sehr wünschenswert, wenn das Heranführen über den Therapeuten erfolgte. Deshalb ist es generell wünschenswert, daß wenigstens ein schriftliches, fachkundiges Heranführen die Musik begleitet - das Übrige kann der Patient selbst machen.

F.:       Was ist Ihnen noch wichtig in diesem Kontext?
A.:       Ich hätte Angst vor Auswüchsen einer rezeptiv-funktionalen Musik, weil es zu leicht sein könnte, daß alles, was säuselt und ruhig erscheint, auch wie Medizin sein muß. Man sollte es schon sehr professionell machen, man sollte wirklich wissen, was man anbietet, welcher Art die Musik ist, welche Nebeneffekte sie bei einem Menschen erzeugen kann.

Daher bin ich gegen Wildwuchs, der doch mehr kommerziellen Aspekt hat - man nennt so etwas gerne "Musik zum Träumen" oder Musik, die den Charakter von Sphärenklängen hat usw.. Eine solche Musik ist gefährlich, weil sie dazu benutzt werden kann, bei dem Patienten Reaktionen zu bewirken, die man eigentlich nicht so ohne weiteres von ihm zu erhalten versuchen sollte.

Das Interview mit Audiofiles

 


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