Musiktherapie
in der
chinesischen Medizin,
1. Teil
von
Feng Hanmei
und Sören Schelten
Bei
Problemen mit
den Zähnen geht man zum Zahnarzt. Das weiß
jedes Kind im Westen. Für Chinesen, die sich
der Chinesischen Medizin zuwenden, ist es gar nicht
so klar, ob sie bei Zahnproblemen automatisch einen
Zahnarzt aufsuchen sollen. Oft sind solche Störungen
nur Ausdruck für eine innere Unausgewogenheit
des Organsystems, z. B. für einen Fülle-Zustand
des Magens. Der Fülle-Zustand wiederum könnte
durch äußerlichen Hitze-Einfluß zustande
gekommen sein und führt zu Zahnschmerzen oder
Zahnfleischentzündung. Die Störungen können
aber ebensogut für einen Leere-Zustand bzw. Mangel
an Nieren-jing ( Nierenessenz), aufgrund dessen man
tendenziell schlechte Zähne haben kann Ausdruck
sein.
Dieses festzustellen und zu behandeln ist die Aufgabe
eines Arztes für Chinesische Medizin, ohne daß
er als Zahnarzt ausgebildet ist und zu zahnmedizinisch-technischen
Hilfen greifen muß, wie es im Westen Alltag
ist. Er würde einen Patienten, der unter genannten
Symptomen leidet, entsprechende Kräutermischungen
verschreiben oder Akupunktur einsetzen oder andere
Methoden. Er würde einen Patienten nur
dann zu einem Zahnarzt schicken, wenn er eine Füllung
oder etwas ähnliches bräuchte. Das geschieht
jedoch relativ selten. Andererseits kann der Arzt
genau die gleichen Kräutermischungen oder ähnliche
Punkte-Kombinationen bei Einsatz von Akupunktur und
Moxibustion, die er gegen schlechte Zähne bereithält,
bei Haarausfall, Ohrensausen, oder auch Schreckhaftigkeit,
Ängstlichkeit und Depression einsetzen, sofern
diese den gleichen ätiologischen Ursprung des
Mangel an Nieren-Jing aufweisen.
Symptome
als Wegweiser
Mit anderen Worten: Symptome sind für die Chinesische
Medizin Wegweiser zu den eigentlichen Ursachen der
Beschwerden, nämlich einer Störung der Harmonie
in dem inneren Organsystem. Dementsprechend werden
die Therapien meistens konstitutionell gestaltet,
mit dem Ziel, die Ausgeglichenheit unter den inneren
Organen wiederherzustellen.
An
diesem Beispiel läßt sich gut erkennen,
daß psychosomatisch bedingte Beschwerden, welche
im Westen häufig in der Kompetenz der Psychologen
liegen, auch von dem Arzt der Chinesischen Medizin
voll berücksichtigt und behandelt werden sollen.
Psychosomatische Beschwerden können nach Ansicht
der Chinesischen Medizin Ursache für und Folgen
von physischen Problemen sein. In der chinesischen
Alltagssprache verwendet man häufig Bezeichnungen
für Konstitutionstypen der Chinesischen Medizin,
um Charakterzüge und Verhaltensweisen zu beschreiben.
Z.B.
sagt man anstelle davon, jemand sei leicht reizbar
und reagiere häufig zornig, sein "Leber-Feuer
brenne". Dieser Konstitutionstyp neigt aufgrund
von aufsteigendem Leber-Yang und abgeschwächtem
Leber-Yin zu starken Kopfschmerzen im Scheitelbereich
und Schwindel, Ohrensausen und plötzlicher Taubheit,
Röte im Gesicht und in den Augen sowie zu Trockenheit
und bitterem Geschmack im Mund; ferner leidet er häufig
unter brennenden Schmerzen zwischen den Rippen, Ruhelosigkeit,
Reizbarkeit und Schlaflosigkeit, Nasenbluten sowie
starker Regelblutung. Er läßt sich in der
Chinesischen Medizin mithilfe der Zungendiagnose,
der Pulsdiagnose und anderen diagnostischen Methoden
feststellen. Auf dieser Grundlage werden dann die
Therapien durchgeführt. Bei solch einem "bösen"
Konstitutionstypus denkt der chinesische Mediziner
als erstes an den Leberfunktionskreis.
Beispiel
Yin-Funktionskreis Niere
Nach
Ansicht der Chinesischen Medizin sind unsere äußeren
Organe, die Sinnesorgane, lediglich Öffnungen
und damit Verbindungen der inneren Funktionskreise
zur Außenwelt. Nehmen wir den Nierenfunktionskreis
aus dem Beispiel mit den schlechten Zähnen. Der
Yin-Funktionskreis Niere dient in erster Linie als
Speicher für die Lebensessenz (chines.: jingqi),
die der Mensch einerseits von Geburt her besitzt und
andererseits aus der Nahrung und der eingeatmeten
Luft aufgenommen hat. Der Nierenfunktionskreis reguliert
die Verteilung der Körpersäfte im ganzen
Körper, wovon wiederum die Funktionen anderer
Organe abhängen. Ferner kontrolliert er die Aufnahme
und Verteilung der durch die Arbeit der Lunge eingegangenen
qi-Energie.
Eine
Aufnahmeschwäche kann z. B. zu Atemnot führen.
Der Nierenfunktionskreis sorgt außerdem für
die Ausbildung und den Erhalt der Knochen, die Produktion
von Knochenmark und die Versorgung des Gehirns mit
den nötigen Nährstoffen. Da Zähne als
Ende der Knochen angesehen werden, zeigt sich eine
ungenügende Versorgung der Knochen und des Gehirns
aufgrund einer schwachen Nierenfunktion in schlechten,
anfälligen und leicht ausfallenden Zähnen.
Auch leiden Gedächtnis und Denkvermögen
unter einer solchen Schwäche.
Der
Funktionskreis der Niere ist durch Ohren, Geschlechtsorgane,
Harnwege und After mit der Außenwelt verbunden.
Sowohl Ohrensausen und Schwerhörigkeit als auch
Impotenz oder Darmvorfall lassen sich mit einer Schwäche
dsieses Funktionskreises in Verbindung setzen. Der
Zustand ("Glanz") der Niere manifestiert
sich in den Haaren. Glänzende und kräftige
Haare sind ein eindeutiges Zeichen für einen
gesunden Nierenfunktionskreis. Zusammen mit dem Yang-Funktionskreis
Harnblase, mit dem die Niere über Meridiane verbunden
ist, entstehen das Innen und das Außen des Kreises.
Kurz zusammengefaßt gehören dem Nierenfunktionskreis
folgende Organe und Körperteile an: Nieren, Harnblase,
Knochen, Ohren, Harnwege, After, Geschlechtsorgane
und die Haare. Mit anderen Worten: Erkrankungen an
all diesen Organen und Körperteilen können
durch die konstitutionelle Stärkung des Nierenfunktionskreises
gebessert oder geheilt werden.
Die
Chinesische Medizin ist eine ganzheitliche Medizin,
die verschiedene Therapieformen umfaßt. Sie
fordert daher einen ganzheitlichen Einsatz. Sehr viele
intellektuelle und kulturelle Auseinandersetzungen
sind Voraussetzung für einen wirksamen Einsatz
der therapeutischen Mittel. Es gehört zur Bildung
einer intellektuellen und kulturellen Persönlichkeit,
Wissen über Medizin, Gesundheit und Lebenspflege
zu erwerben. Viele Intellektuelle in China besitzen
medizinisches Wissen, das sie in ihrem Verwandten-
und Bekanntenkreis einsetzen. Diese Anforderungen
sind gleichermaßen an die nachkommenden Generationen
gestellt, auch wenn sie im Computerzeitalter aufwachsen.
Es
reicht für einen Mediziner im Sinne der Chinesischen
Medizin andererseits nicht aus, nur das Medizinische
zu studieren. Er muß sich auch in sozio-kulturellen
Disziplinen ausbilden, um überhaupt ein den Vorfahren
gleichgestelltes Wissen und Können zu erreichen.
Viele kalligraphische Meisterwerke aus der chinesischen
Geschichte drücken von ihrem Wortlaut Rezepturen
für Heilkräuter aus. Poesie und Medizin
sind in der chinesischen Tradition eng verbunden,
Heilkräuter tragen häufig poetische Namen.
Auch die Namen der Akupunkturpunkte sind nicht einfach
dem numerischen Zufall überlassen. Sie sind meistens
Bezeichnung für die physiologischen Eigenschaften
der betreffenden Punkte, wobei die Auswahl der Schriftzeichen
für diese Bezeichnungen der Poesie entspringen.
Nicht wenige Menschen im Westen lachen über Chinesen,
die klassische medizinische Werke singend lesen und
darin Spaß finden, diese auch auswendig zu lernen.
Allein, dabei verbleibt der Genuß auf der Seiteder
Chinesen.
Viele
Ärzte der vergangenen Generationen waren musikalisch
ausgebildet. Nicht selten setzten sie Musik
in ihrer medizinischen Praxis ein. Ein bekannter Arzt,
Zhu Xiaxiang aus der Yuan-Dynastie (1271-1368), behauptete,
Musik sei Medizin.
Musiktherapie
in China
Es
gibt in China eine lange Tradition, in der Musik für
Heilzwecke eingesetzt wird. Es ist nebenbei
bemerkt nicht ganz abwegig, die Chinesische Medizin
als Traditionelle Chinesische Medizin zu bezeichnen.
Doch haben wir uns in diesem Zusammenhang dafür
entschieden, die ‹bersetzung aus dem Chinesischen,
der eben "Chinesische Medizin" im Deutschen
entspricht, zu übernehmen. Wir werden entsprechend
den Begriff der traditionellen Musiktherapie nach
den fünf Elementen übernehmen. China ist
die einzige Hochkultur in der Welt, die über
Jahrtausende hinweg eine kontinuierliche Entwicklung
erlebt hat.
Dies
betrifft auch die Musiktradition. Musik hat im Leben
der chinesischen Bevölkerung immer einen sehr
hohen Stellenwert gehabt. Wie weit sich die Geschichte
der Musik als solche in China mit wissenschaftlich
exakten Mitteln zurückverfolgen läßt,
ist schwer festzustellen. Spätestens zur Zeit
der großen chinesischen Denker Laozi und Kongzi
(latinisierte Form: Konfuzius), vor etwa 2200 Jahren,
war die Musik bereits ein so wichtiger Bestandteil
des kulturellen Alltags, daß sie als eines der
sechs obligatorischen Fächer für angehende
Gelehrte festgelegt war. Laozi hat Musik als Mittel
zu philosophieren eingesetzt und die Musik als ästhetisches
Element in seine daoistische Philosophie einfließen
lassen.
Nach
Kongzi fängt eine Entwicklung der Persönlichkeit
bei der Dichtung an, findet in der Beschäftigung
mit den Riten ihren Bestand und vollendet sich in
der Musik. Die Lehre von Laozi und von Kongzi haben
die chinesische Kultur bekanntlich sehr stark geprägt.
Nicht weniger ihre Einstellung zur Musik. Unter dem
Namen von Kongzi stand auch der "Klassiker der
Musik", der leider verlorengegangen ist. Sein
Einfluß in der Geschichte ist jedoch unübersehbar.
Auch gab es zu seiner Zeit andere bekannte Denker
und Werke, die in der Bedeutung, die sie der Musik
zukommen ließen, zum kulturellen Leben in China
beigetragen haben.
Das
Werk "Yueji" (Über die Musik) entstand
wenig später aus der Feder eines der Nachfolger
Kongzis. Es handelt sich hierbei um eine Synthese
der Musiktheorie seiner Zeit, einschließlich
der Untersuchung verschiedener Musikstile und ihrer
sozio-kulturellen Bedeutung. Dieses Werk selbst ist
nur teilweise erhalten. Jedoch findet man viele Widerspiegelungen
der theoretischen Ansätze in der überlieferten
chinesischen Musiktheorie und in anderen klassischen
Werken.
Das
Werk "Der Gelbe Kaiser und die Innere Medizin"
ist hierfür ein gutes Beispiel. Es entstand in
der Zeit zwischen 400 v.u.Z. bis 200 n.u.Z. ein medizinischer
Klassiker, an dem zahlreiche Generationen von
Ärzten gearbeitet haben. Das Werk besteht aus
zwei Bänden, untergliedert in achtzehn Teile
mit insgesamt 162 Kapiteln. Es wird ein breites Themenspektrum
abgehandelt: Beziehung zwischen Mensch und Natur,
Physiologie, Pathologie, Diagnostik, Therapiemethoden
sowie Maßnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten
und Methoden der Lebenspflege.
Die
Grundtheorie dieses Werks fußt in dem Gedanken
einer Ganzheitlichkeit, die verschiedene Ebenen betrifft.
Der menschliche Körper ist eine Ganzheit, insofern
die einzelnen Organe und Körperteile eng miteinander
verbunden sind; Mensch und Natur sind eine Ganzheit,
weil zwischen Mensch und Natur eine enge Beziehung
besteht. Durch dieses Werk ist die Lehre der fünf
Elemente in die Medizin eingeführt und systematisch
ausgelegt worden. Viele nachfolgende medizinische
Klassiker sind auf der Grundlage dieses Werkes aufgebaut.
Das Studium diese Klassikers ist obligatorisch für
das Erlernen der Chinesischen Medizin gewordenund
wird von den Studenten der Chinesischen Medizin heute
genauso intensiv studiert wie vor rd. 1800 Jahren.
Der
Gelbe Kaiser und die Innere Medizin
Es
gibt in dem Werk "Der Gelbe Kaiser und die Innere
Medizin" tiefgehende Auseinandersetzungen darüber,
wie Musik medizinisch eingesetzt werden kann, um die
körperliche und seelische Konstitution des Menschen
gezielt zu beeinflussen. Harmoniestörungen im
Organsystem sollen behoben werden, um Krankheiten
zu heilen. Diese Therapien beziehen sich auf die inneren
Organe bzw. auf die Funktionskreise, wie sie in der
Chinesischen Medizin verstanden werden. Jeder Funktionskreis
hat seine ganz spezifische Bedeutung für den
Gesamtorganismus und darüber hinausseinen eigenen
Charakter und seine eigenen Schwingungen. Die Schwingungen
lassen sich zu fünf Typklassen zusammenfassen,
welche wiederum den Eigenschaften der fünf Elemente
jeweils entsprechen. Musiktherapie, wie sie "Der
Gelbe Kaiser und die Innere Medizin" beschreibt,
soll mithilfe der Erzeugung der entsprechenden Schwingungen
die betreffenden Funktionskreise ansprechen und regulieren.
Frühestens bis zur Entstehung dieses Werkes läßt
sich die Tradition der Musik als Therapie bzw. Musik
als Medizin in China wissenschaftlich exakt zurückverfolgen.
Der
Musiktherapie nach den fünf Elementen steht die
Musik, die bei Qigong zur therapeutischen Begleitung
bzw. Ergänzung eingesetzt wird, zur Seite. Qigong
ist ein eigenständiger Zweig innerhalb der Chinesischen
Medizin, dessen ‹bungen der Beeinflussung des
qi-Energiekreislaufs in unserem Organismus dienen.
Ebenso dient das Vortragen und Singen der dem Qigong
eigenen Lauten und Mantras dieser Beeinflussung. Dabei
ist es entscheidend, auf welche Weise die Laute und
Mantras gesungen werden. Es gibt ferner Versuche,
durch Musik den qi-Energiefluß in unserem Körper
allgemein zu beeinflussen und damit die Wirkungen
der Qigong-‹bungen zu steigern. Das geht so
weit, daß durch rezeptives Anhören eine
ähnliche, aber deutlich geringere Wirkung statthaben
kann. Begleitung dieser Musik zu üben.
Die Therapiemusik des Herrn Shi ist durchgehend auch
unter Berücksichtigung dieses Aspekts entstanden.
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